Speidlerhaus: Ort der Manufaktur
Das dreigeschossige Haus Waldseer Straße 4 stammt aus dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts und ist einer der letzten historischen Bauten in Baienfurt.
Die Nachbarn
Es gehörte zu seiner Entstehungszeit zu einer Reihe eng beieinanderstehender, jedoch wesentlich kleinerer Häuser an der östlichen Seite der Waldseer Straße, die sich nördlich der Achbrücke zu einem Platz erweiterte. Diese kleinen Häuser wurden zu Wohnzwecken genutzt. Sie verfügten höchstens noch über einen kleinen Geschäfts- oder Werkstattraum oder über eine kleine landwirtschaftliche Funktionseinheit. Ihre Bewohner gehörten zu den 75% der Baienfurter Bevölkerung, die ein unter der Subsistenzgrenze von 3OO Gulden liegendes Vermögen hatten. Wegen der Aufsplitterung der Grundstücke hatten diese Leute nur noch geringen oder gar keinen Grundbesitz mehr, konnten sich deshalb nicht mehr vollständig oder gar nicht selbst versorgen und waren somit auf Handwerk oder Lohnarbeit angewiesen.
Die Ärmsten von ihnen waren die berufslosenTagelöhner, etwa die Hälfte der Baienfurter Bevölkerung, die im Dienste der Klöster Weingarten oder Baindt saisonal in der Landwirtschaft tätig waren. Sie brauchten im Winter eine Verdienstmöglichkeit, um ihr armseliges Leben fristen und ihre Familien ernähren zu können, und waren wie die Kleinhandwerker sicherlich auch froh über jeden Nebenverdienst während des gesamten Jahres.
Der Verleger: Franz Joseph Speidler
Diese Verhältnisse waren ideal für den Aufstieg des Strumpfstrickermeisters Franz Joseph Speidler zum Verleger und Strumpffabrikanten. Speidler produzierte in der eigenen Werkstatt mit Gesellen an Strumpfwerkstühlen, erhöhte aber seine Produktion vor allem dadurch, dass er als Verleger im sogenannten Verlagssystem Strümpfe in Heimarbeit vorwiegend von den Baienfurter Tagelöhnern und Kleinhandwerkern produzieren ließ. Dabei stellte er den Arbeitenden das Material und oft auch die Gerätschaften, schrieb die Stückzahl und die Qualität vor und sorgte schließlich durch seine überregionalen Handelsbeziehungen für den Absatz der Waren.
Auf diese Weise setzte Speidler viele Baienfurter, die einen zusätzlichen Verdienst dringend nötig hatten, in Arbeit und Brot und stieg dabei selbst zum einzigen Fabrikanten (auch Manufaktorist genannt) des Oberamts Altdorf auf. Verarbeiten ließ Speidler damals böhmische und ungarische Schafswolle, die er aufgrund der Unterstützung der österreischen Regierung für den Ausbau des Verlags- und Manufakturwesens zollfrei importieren durfte.
Sein Haus
Natürlich brauchte Speidler für seine Tätigkeit auch ein Haus, am besten möglichst nahe bei den Leuten, die in Heimarbeit für ihn produzierten. Deshalb ließ der aufstrebende Speidler im Jahre 1764 (er beschäftigte zu dieser Zeit bereits 61 Leute) ein zweistöckiges Gebäude in der Waldseer Straße erweitern und mit weiteren Stockwerken überbauen, so dass sein Haus, das heutige Haus Nr. 4, ein stattliches und ortsbild-prägendes Aussehen erhielt. Als Wohn- und Geschäftssitz des Baienfurter Strumpffabrikanten Speidler, für den ein Großteil der Baienfurter Tagelöhner und Handwerker arbeitete, stellte das Haus Waldseer Straße 4 von 1764 bis 1790 eine wichtige Institution im Ort dar.
Das Erdgeschoss beinhaltete damals einen Laden zum stückweisen Verkauf von Strick- und Wirkwaren.
Das erste Obergeschoss bot Platz für die Unterbringung von Gesellen und für die Aufstellung der Strumpf-Werkstühle (Strickmaschinen) in einem eigenen Produktionsraum.
Das zweite Obergeschoss war dem Repräsentationsanspruch eines zum Verleger aufgestiegenen Handwerkermeisters entsprechend mit Stuckdecken und aufwändigen Türen ausgestattet und diente als Wohnhaus und Geschäftssitz. Das hohe, in zwei Ebenen unterteilte Dach dürfte als Lagerraum gedient haben. Während die kleinen Häuser nebenan geschossweise aufgeteilt waren, d.h. Erdgeschoss und 1. Stock unterschiedlichen Eigentümern gehörten, befand sich das große, stattliche Haus in ihrer Mitte im Besitz eines einzigen Mannes.
Auf- und Abstieg des Strumpfabrikanten Speidler
Dieser legte jetzt erst richtig los, beschäftigte 1770 bereits 500, 1773 sogar 576 Leute. In diesem Jahr zahlte er seinen 180 Spinnern, 20 Zwirnern, 36 Wirkern, 320 Strickern und 20 Weber-und Strickermeistern einen Gesamtarbeitslohn von 5500 Gulden. Unter diesen Beschäftigten waren sicherlich vorwiegend, aber nicht nur Baienfurter.
1774 hatte es Speidler, wie die Steuerliste aus diesem Jahr zeigt, mit einem Vermögen von 1275 Gulden geschafft, in die von Großbauern dominierte erste Steuerklasse und Oberschicht Baienfurts einzudringen. 1785 wurde in einem Bericht des Oberamts Altdorf an die vorderösterreichische Regierung die Strumpffabrik Speidler in Baienfurt als einzige Fabrik (auch Manufaktur genannt) im gesamten Oberamtsbezirk genannt. Das Warenangebot Speidlers, mit dem er einen überregionalen Markt belieferte, bestand zu dieser Zeit aus Strümpfen aller Art, Wollkappen und Handschuhen.
Doch schon vor 1785 war Speidler in Schwierigkeiten geraten. So musste er sein Haus bereits 1777 und noch einmal 1786 schuldenhalber verpfänden. Sein vorwiegend auf dem Verlagssystem basierendes Unternehmen, in dem der Schwerpunkt auf dem Handel mit traditionell handwerklich hergestellten Waren lag, konnte nicht mithalten mit den immer zahlreicher werdenden, hoch technisierten Fabriken/Manufakturen.
Schon 1790 machte Speidler Konkurs. Sein Gesambesitz, Manufaktur und Haus, wurden zwangsversteigert. Somit überstand die Baienfurter Manufaktur wie viele andere „Fabriken“ aus der Phase der Vorindustrialisierung, die Wirtschaftskrise im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts nicht. Für die Baienfurter war das sicherlich ein großer Verlust.
Spätere Geschichte des Hauses
Nach 1790 war das Wohn- und Geschäftshaus Waldseer Straße 4 nur noch ein „auf dem Lande keinen Nutzen abwerfendes Gebäude“, das den auf Speidler folgenden Eigentümer Anton Rundel wirtschaftlich sehr belastete. In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts verkaufte dieser das zweite Obergeschoss, das schließlich 1831 nochmals geteilt und bis 1930 von je zwei Eigentümern bewohnt worden ist. Das Erdgeschoss und das erste Obergeschoss blieben dagegen immer im Besitz eines Eigentümers. Erst im Jahre 1938 ging das gesamte Haus wieder in den Besitz einer Eigentümerin über, die es schließlich 1955 an den Bäcker Neuner verkaufte.
Die Sanierung
Als „altes Glump“ erwarb 1995 die Gemeinde Baienfurt das historische Haus, um es zum Nutzen der Baienfurter Bürger für die Nachwelt zu erhalten. Nachdem es in den Jahren 1998/1999 aufwändig renoviert worden war, erhielt es zur Einweihung 1999 den Namen seines bedeutendsten Besitzers und heißt seitdem Speidlerhaus.
Historische Bedeutung des Speidlerhauses
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Speidlerhaus ein Zeugnis für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Baienfurts darstellt. Dadurch, dass schon frühzeitig durch die Aufsplitterung der Grundstücke ein Großteil der Baienfurter zur Subsistenzsicherung auf Handwerk und Lohnarbeit angewiesen war, waren die Voraussetzungen für eine gewerbliche Massenproduktion für den überregionalen Markt – die Vorindustrialisierung –gegeben. In Baienfurt, das heute stolz ist auf seine Bedeutung als bekannter Industrieort, macht das Speidlerhaus heute noch den schon frühzeitig einsetzenden Wandel vom Bauerndorf zum Standort für gewerbliche Produktion anschaulich.